Die Statistik spricht eine klare Sprache: Jede fünfte Frau – also 20 Prozent der Frauen – ist ab ihrem 15. Lebensjahr körperlicher und/oder sexueller Gewalt ausgesetzt. Jede 3. Frau musste seit ihrem 15. Lebensjahr eine Form von sexueller Belästigung erfahren. Jede 7. Frau ist ab ihrem 15. Lebensjahr von Stalking betroffen und im Jahr 2020 gab es laut polizeilicher Kriminalstatistik 31 weibliche Mordopfer. Darüber hinaus werden 90 Prozent sämtlicher Gewalttaten an Frauen in der Familie und im sozialen Nahraum verübt.[Quelle, Stand Februar 2022: https://www.aoef.at/index.php/zahlen-und-daten]

Diese Zahlen sind für die meisten von uns nichts Neues. Aber, Hand aufs Herz: erschrecken wir angesichts dieser Tatsachen noch?

Männliche Gewalt gegen Frauen steht in den meisten Fällen in direktem Zusammenhang mit dem Bedürfnis, sie zu beherrschen

Von einer vollständigen Gleichstellung der Geschlechter sind wir noch weit entfernt. Dennoch gibt es Fortschritte die sich weg von der noch immer gesellschaftlich breit akzeptierten Herrschaft der Männer über Frauen bewegen. Immer weniger Frauen sind bereit, eine Rolle als Untergebene einzunehmen, aber auch immer mehr Männer wünschen sich in allen Lebensbereichen gleichberechtigte Beziehungen zu Frauen auf Augenhöhe.

Weibliche Selbstbestimmung als Aggressor

Doch wenn Männer psychische oder physische Gewalt anwenden, um Frauen zu kontrollieren, wenn Männer Frauen bedrängen, belästigen oder vergewaltigen, dann agieren sie als despotische Patriarchen, die mit unmittelbarer Gewalt männliche Herrschaft gegen weibliche Selbstbestimmung durchsetzen. So löst bspw. die Sichtbarkeit selbstbewusster Frauen bei vielen Männern hemmungslose Aggressionen aus. In die Diskussion um Meinungsfreiheit und Debattenkultur fließt viel zu selten der Aspekt ein, dass Männer gezielt versuchen, Frauen, die sich öffentlich in den sozialen Medien äußern, durch Beleidigungen und Androhungen zum Schweigen zu bringen. Ohnmacht von Männern, die sich ihrer Macht durch den Feminismus beraubt sehen. Gewalt in all ihren Formen ist ihr Weg, die Herrschaft, die ihnen nach eigenem Verständnis zusteht, zurückzuerobern.

Gewalt als letzten Ausweg oder pure Lust

Nicht alle, die das Patriarchat befürworten, sind gewalttätig gegenüber Frauen, aber das Patriarchat ist immer strukturell gewaltförmig. Einigen ökonomisch impotenten Männern, die ihre Rolle als „Ernährer der Familie“ nicht ausfüllen können, bleibt – sofern sie nicht eine auf Freiwilligkeit basierende Beziehung ohne Herrschaftsanspruch auf Augenhöhe führen können oder wollen – nur die unmittelbare Sicherung ihrer Macht durch Angst und Gewalt. Andersrum betrachtet, bedeutet das aber nicht, dass Gewalt gegen Frauen nur von jenen ausgeübt wird, die keine ökonomische oder soziale Überlegenheit ausspielen können. Und nicht selten werden Frauen einfach aufgrund der Tatsache, dass sie Frauen sind, verachtet.  Hier befriedigen Gewalthandlungen gegenüber Frauen die pure Lust.

Feminismus als Waffe im Kampf gegen Gewalt an Frauen

Ich finde es wichtig den gesellschaftlichen Diskurs zu fördern und darauf aufmerksam zu machen, das feministische Bemühungen heutzutage noch immer notwendig sind. Auch ist es nicht normal, dass jede zweite Frau, mit der ich spreche, selbst Erfahrungen mit sexueller Belästigung oder Sexismus gemacht hat. Also tun wir bitte nicht so, als wären Bemühungen für ein besseres Zusammenleben nicht mehr notwendig. Ein kollektives gesellschaftliches Bewusstsein bringt Frauen hervor, die sich nicht beherrschen lassen – weder mit noch ohne Gewalt. Und vor allem: Es bringt Männer hervor, die es nicht erstrebenswert finden, Frauen zu beherrschen, klein zu halten und ihre Selbstbestimmung einzuschränken. Ein ernst gemeinter Kampf zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen ist feministisch – und sollte gleichermaßen von beiden Geschlechtern geführt werden.

Was kann proaktiv getan werden, damit sich die Statistik nach unten bewegt?

Alles was mit Persönlichkeitsentwicklung zu tun hat, unterstützt. Und es ist wichtig, tief verwurzelte Strukturen, Hierarchien und patriarchalische Vorstellungen aufzubrechen. Für mich ist es für beide Geschlechter wichtig, das Selbstbewusstsein zu stärken und zu fördern. Denn wer sich seiner Selbst bewusst ist, neigt nicht mehr zu Gewalt.

Den meisten Gewalthandlungen gehen Konflikte voraus, die das Alltagsleben betreffen, wie zum Beispiel: Besitzansprüche des Mannes, Eifersucht, Macht und Kontrolle verbunden mit „Bestrafung“ der Frau, Uneinigkeit bezüglich der Hausarbeit und finanzieller Ressourcen, Erziehung und Betreuung der Kinder oder aber auch sexuelle Ansprüche. Meistens sind wir auch in der Lage diese Konflikte gut für uns zu lösen – mit dem Glauben an uns und unsere eigenen Fähigkeiten sowie die Unterstützung unseres Umfelds. UND: Konflikte zu vermeiden bedeutet nicht Harmonie! Im Gegenteil: Konflikte zu vermeiden stört die Harmonie. Konflikte können Wendepunkte für ein besseres Miteinander sein!

Ergebnisse der Hirnforschung haben außerdem gezeigt, dass mit Hilfe bestimmter Bereiche des präfrontalen Cortex Unterdrückungen derjenigen Emotionen stattfinden, die emotionale Ausbrüche regeln. Dass wir diese Ausbrüche nicht so steuern können, wie es uns beliebt, liegt auch daran, dass wir von unseren Emotionen gesteuert werden und nicht umgekehrt. Durch unsere Sozialisation nehmen wir unsere eigene Befindlichkeit nur sehr selektiv wahr bzw. ignorieren diese. Und je später wir wahrnehmen, desto mehr Aufwand haben wir, um dagegen zu steuern. Somit erhöht eine gute Frühwahrnehmung die Chancen gegensteuern zu können, also Selbststeuerung zu wahren.

Weiters können wir unseren eigenen Sprachgebrauch reflektieren und darauf achten, welche Worte wir benutzen. Damit gemeint ist nicht nur die gendergerechte Sprache. Auch im Zusammenhang mit Floskeln, Sprüche und Wortspielen sollten wir die Wirkungsmacht von Worten für eine positive Entwicklung einsetzen. Schärfen wir unsere Sinne für die Thematik, geben wir Denkanstöße für Diskussionen oder regen wir zum Neudenken an. Sensibilisieren wir unser Umfeld und setzen wir uns für Gleichberechtigung und Chancengerechtigkeit, Vielfalt und Kooperation ein. Denn auf Altbewährtem kann nur Altbewährtes wachsen.

Zur Person:

Ilona Tanos ist seit 2016 Projektmanagerin beim Business Frauen Center und Beraterin beim dazugehörigen Frauenberufszentrum Kärnten, und setzt sich damit täglich für Chancengleichheit ein. Neben ihrer umfangreichen Coachingerfahrung bringt sie ein Masterstudium in Mediation und Konfliktmanagement mit und bildet sich mit hoher Lern- und Leistungsbereitschaft ständig weiter.