Vom Verständnis der „purpose“ Wirtschaft zu New Work and New Leadership
Tina Ruseva ist eine der digitalen Pionierinnen in Deutschland, Speakerin und Gründerin. Sie setzt auf Innovation und Unternehmer*innentum um den großen globalen Herausforderungen wie die Klimakatastrophe und die zunehmende Ungleichheit unserer Gesellschaft zu begegnen. Im Interview mit BFC Vorständin Yasmin Kreiner spricht sie darüber, wie unser zunehmendes Bestreben nach „purpose“ bzw. Sinn unsere Arbeitswelt hin Richtung New Work und New Leadership verändert, und warum darin der Schlüssel liegen könnte, den großen Bedrohungen unserer Zeit gerecht zu werden.
YK: Ich möchte unser Interview gerne mit einem Statement starten, dass ich am Wochenende bei einem Konzert gehört habe. Der Sänger sagte, dass unsere Zeit auf der Erde begrenzt ist und wir die Zeit, die wir haben damit verbringen sollten, was uns erfüllt und wirklich glücklich macht. Denn wenn wir uns darauf konzentrieren, dann werden wir auch erfolgreich sein in genau dieser Herzenssache. Er hat in einem kleinen Zimmer sein erstes Lied geschrieben und sagte, dass wir uns umdrehen und schauen sollen, was aus diesem kleinen Zimmer geworden ist – ein riesiges Stadion! Ich meine, das ist doch „purpose“?
TR: Ich sage, dass das grundsätzlich stimmt, aber meinem Verständnis nach zeigt das nicht das vollständige Bild, was mit „purpose“ heute gemeint ist bzw. was die „purpose“ in der heutigen Wirtschaft ist. Es ist nur eine Betrachtungsweise, die sich nur auf mich bezieht: Geht es mir gut? Bin ich glücklich? Bin ich motiviert? Aber das, was uns wirklich glücklich macht ist niemals das was nur für uns ist – zum Beispiel Geld oder Karriere oder schöne Länder besuchen, das alles hat nur dann einen nachhaltigen Effekt darauf, wie wir uns fühlen, wenn wir das mit anderen teilen können. Und das ist der zweite Aspekt von Purpose – was trägst du bei? Was ist dein Beitrag? Wem hast du geholfen? Wofür ist das, was du tust und was dir so gut gefällt, nützlich?
In der Debatte um die „purpose“ Wirtschaft geht es um noch einen Aspekt: die Digitalisierung. Wir sind heute eine global vernetzte Gesellschaft und als solche haben unsere Handlungen, Geschäftsideen, Artikel, die wir schreiben und unsere Lieder, die wir singen, die Kriege, die wir führen und die Kleider, die wir tragen – es hat alles einen globalen Effekt durch diese Vernetzung. Die kleinen und die großen Sachen sind genauso vernetzt.
Daher spricht man gerne auch über eine dreifache Betrachtung:
- In der Mitte bin ich – mein persönlicher „purpose“
- Außen herum ist mein Wirken auf mein direktes Umfeld
- Und ganz außen stellt sich die Frage, was hat die Welt von meinem Tun?
Diese drei Ebenen werden von der Technologie sehr stark vernetzt.
Aktuell ist unsere Gesellschaft jedoch auf Leistung für Anreize in Form von Geld oder Belohnungen ausgelegt. Mit guter Leistung bekommen wir ein höheres Gehalt, damit können wir bspw. für unsere Kinder eine bessere Bildung finanzieren oder uns eine schönere Freizeit bzw. mehr Freiheiten gönnen. Schließlich will heute bei so vielen Möglichkeiten niemand mehr etwas verpassen. Das führt zu einem extrem egozentrischen Wirtschaftsbewusstsein.
Die Frage ist also, wie wir hier einen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Shift schaffen wo wir nicht mehr die Leistung belohnen, sondern unseren Beitrag für andere. Das kann zum Beispiel Mentoring sein. Es geht nicht nur darum, dass weniger erfahrene Menschen von den Erfahreneren lernen, sondern, dass erfahrene Menschen auch eine Freude daran haben, wenn sie ihr Wissen weitergeben können.
Eine weitere Möglichkeit wäre, Hierarchien flacher und flexibler zu gestalten und flexiblere Organisationen und Gesellschaften zu schaffen, in der man belohnt wird, wenn man sich für die Gemeinschaft einsetzt, und eben nicht, wenn man eine Karrierestufe höher kommt. Das fängt schon in der Schule an, denn auch unser Bildungssystem funktioniert so. Wir haben ein Einzelgänger*innen Schulsystem: es geht um meine Note und ich werde nach dem gleichen System beurteilt wie in der Arbeitswelt.
Die Ideen der „purpose“ Wirtschaft finden immer mehr Zuspruch und es mangelt nicht an Verständnis für diese zutiefst menschlichen Bedürfnisse. Aktuell mangelt es an Strukturen diese Bedürfnisse besser einfließen zu lassen und umzusetzen. Man darf auch nicht falsch verstehen: Es geht nicht darum sich aufzuopfern, es geht darum, dass wir gemeinsam erfolgreicher sein können und jede*r aber selbst für sich was davon hat. Es gibt ein tolles Sprichwort: „Glück ist das einzige, das mehr wird, wenn man es teilt.“ Ich denke, dass das auch auf Wissen zutrifft. Wir lernen im Gespräch mit anderen oft mehr über unsere eigenen Ideen und bekommen Klarheit was wir genau meinen oder welcher Aspekt uns am wichtigsten ist. Diese Formel zu leben als Prototyp von der zukünftigen Arbeitswelt das wäre eine spannende Herangehensweise.
Die Art, wie Arbeit jetzt organisiert ist, stammt aus der frühen Industrialisierung, damit große Fabriken funktionieren und die maximale Produktivität erreicht werden kann. Und man hat sich dann schnelle Managementkonzepte vom Militär abgeschaut, damals gab es sonst keine großen Organisationen, wo man sich was abschauen konnte. Und in der Armee war alles mit kleinen Teams mit einer Führungskraft organisiert. Diese Struktur ist sehr gut und effizient und wir verdanken unseren westlichen Wohlstand dieser Organisation, weil sie auch für das System Maschine sehr gut funktioniert. Heute aber hat sich die Industrie zu einer Wissensgesellschaft verändert und Arbeit wird kreativer, es entstehen komplexere Produkte. Es gibt mehr fließende Übergänge, damit ist zu viel Struktur zu langsam für unsere heutigen Prozesse.
Menschen haben unterstützend zu Maschinen gearbeitet und ihre Arbeit war repetitiv. Jetzt hat sich alles verändert: Mit dem Internet und Softwareentwicklung hatten wir die 3. Industrielle Revolution. Wir haben unsere Arbeit automatisieren können und mit den exponentiellen Technologien wie Künstliche Intelligenz und Blockchain haben wir jetzt noch einen draufgesetzt. Wir haben die Arbeit nicht nur automatisiert, sondern exponentielle Produktivität erreicht. Das heißt, dass wir sehr schnell etwas bewegen können, und damit hat es eine noch größere Bedeutung, was wir tun. Denn wir können sehr schnell ein Start-up entwickeln, das extrem groß wird und das dann auf Kosten der Umwelt oder anderen Menschen keinen guten Beitrag leistet, aber durch den globalen Markt und die Kaufkraft und durch diese Vernetztheit sehr schnell einen Impact generieren kann, der nicht positiv ist. Und mit der neuen Arbeit gewinnt Kreativität an Bedeutung, aber auch die Frage, wer hat was davon, weil ich eben eine exponentielle Produktivität habe.
YK: Was sind die Anforderungen an die Organisation?
TR: Leistung ist wichtig für Menschen – wenn wir nur am Strand liegen und nichts machen werden wir unglücklich, weil wir nichts machen – uns wird langweilig, wir brauchen Erfolgserlebnisse und die kommen davon etwas geschafft zu haben. Der eigene Beitrag bleibt wichtig, aber es steigt die Wichtigkeit von Teamwork, es ist einfach notwendig heute, dass man kollaboriert, Sachen ausprobiert und das geht nicht im stillen Kämmerlein. Start-ups zeigen, wie man kreativ zusammenarbeiten und auch mit digital und remote einen Wettbewerbsvorteil erzielen kann durch eine besseres Wissensmanagement.
Individuelle Fähigkeiten und Bedürfnisse sollen zukünftig stärker gefördert werden, sodass jede*r die Möglichkeit bekommt, seine individuelle Bestleistung zu schaffen. DAS ist eine Führungsaufgabe, Rahmenbedingungen zu schaffen, sodass jede*r sich entfalten kann. Und für mich ist das auch das Stichwort Diversität – es geht nicht darum ob es ein Mann oder eine Frau ist oder welche Hautfarbe sondern es geht darum, dass wir alle unterschiedliche Charaktere sind. Die Diversity Diskussion ist sehr wichtig, um Grenzen aufzubrechen. Aber betreffend der Arbeitsbedingungen für new work ist es wirklich wichtig, Menschen so zu fördern, wie sie es brauchen.
YK: Ich glaube, dass in dieser Aussage viel Konfliktpotential steckt, weil wenn jeder so arbeiten kann wie es für ihn gut ist, kann es ja zu Reiberein kommen, ist das nicht sehr schwierig?
TR: Ja natürlich, das ist sehr schwierig, man muss sehr reflektiert sein. Die neue Wirtschaft ist nicht schöner, viele Menschen denken – wow ich mache jetzt Urlaub und ich bin auf Bali und ich habe so viele Freiheiten und ich hab keinen Chef – im Gegenteil, wenn wir so arbeiten dann fordert das eine sehr hohe Selbstführungsfähigkeit und es erfordert auch die Bedingung, dass ich mich selbst führen darf, dass ich Verantwortung habe und Entscheidungen auch treffen darf. Außerdem erfordert diese Art von Arbeit auch sehr klare und transparente Regelungen, die für alle gleich sind. Da sind wir als Organisationen sehr gefordert, viele Menschne wollen agiler arbeiten und dezentraler und selbstorganisierter. Aber damit müssen wir Status aufgeben, weil es keine Hierachien gibt. Es trifft auch Widerstand und braucht ein gezieltes Change Management.
YK: Klare Regeln und Transparente Regeln – das klingt für mich wieder nach Uniformierung und nicht nach Individualisierung? Wie findet man da die Balance Freiräume zu schaffen und Individuen zu fördern, ohne sie wieder einzuschränken?
TR: Das schwierigste ist das Gleichgewicht zu finden – so wenige Regeln wie möglich aufzustellen aber trotzdem so klar wie möglich. Es geht darum nicht alles ganz genau zu präzisieren aber Rahmenbedingungen zu schaffen. Das ist auch bei der Programmierung von KI für autonomes Fahren so. Ich programmiere das Regelwerk und entscheide, wie sich das System bei Dilemmata entscheiden muss. Und ein bisschen so ist es auch bei der zentralen Zusammenarbeit. Z.B. die Verkehrsregeln, die beachtet jeder für sich, aber sie sagen dir nicht, wie oft oder wie lang oder welchen Weg du zur Arbeit nehmen musst. Aber sie sagen, wenn du an eine rote Ampel kommst, muss du stehen bleiben und so ähnlich müssen diese Organisationsregeln dann auch gestaltet werden. Es muss Regeln geben, wie man Ressourcen nutzt und man muss schauen, dass jeder sich entfalten kann und man persönliche Stärken zulassen kann. Wichtig ist, dass man diese philosophischen Fragen versucht so pragmatisch wie möglich zu lösen.
Bedürfnis nach Wissen – ein großer Schlüssel für die nachhaltige Arbeitswelt werden neben den befreienden Strukturen auch davon abhängen, wie wir unser Wissen teilen. Wenn wir das voneinander lernen auch zusätzlich unterstützen können, dann werden wir alle großen Herausforderungen zusammen gut lösen können. Zukünftige Lösungen, wie Arbeit dann wirklich organisiert wird und welche Regeln es braucht, das wird dann durch Schwarmintelligenz entstehen.