Mathematik braucht man nicht? Denkste!
Über Zukunftsthemen wird ja viel gesprochen und geschrieben. Klimawandel hört man da – zurecht, denn dieses Thema wird uns garantiert die nächsten Jahre und Jahrzehnte begleiten und einen enormen Einfluss auf unseren Alltag, unser Leben und unsere Lebensqualität ausüben. Pandemien sind auch so eine Sache, denn obwohl die aktuelle noch gar nicht überwunden ist, liest man schon davon, dass weitere folgen könnten. Es sei nur eine Frage der Zeit. Zum Glück gibt es abgesehen von diesen etwas bedrohlichen Zukunftsthemen auch noch die anderen: diejenigen Zukunftsthemen, die uns positiv und zuversichtlich stimmen. Sie versprechen ein gesünderes Leben und bessere Therapiemöglichkeiten zum Beispiel durch präzisere Diagnosen und individualisierte Medizin. Oder sie versprechen angenehmere Arbeitsplätze, da uns unangenehme oder langweilige Arbeiten zunehmend abgenommen werden, wodurch wir und auf das Spannende, das Interessante konzentrieren können. Künstliche Intelligenz soll unser Leben auf vielen Ebenen verbessern. So unterschiedlich diese Themen sein mögen – für mich als Mathematikerin haben sie ganz offensichtlich eines gemeinsam: Sie alle werden unter anderem durch Mathematik lösbar beziehungsweise ermöglicht.
Wer also dachte, Mathematik nach der Schule nie wieder zu brauchen, hätte gar nicht weiter danebenliegen können. Vielmehr wird Mathematik meiner Ansicht nach das übergeordnete Zukunftsthema, das auch als solches in der Schule präsentiert werden sollte. Die Mathematik ist das Handwerkszeug das man braucht, egal ob man die Ausbreitung eines Virus modelliert oder eine KI entwickelt, die hunderttausende medizinische Dokumente oder Bilder auswertet und auf dieser Basis dem Arzt oder der Ärztin die am besten geeignete Therapie vorschlagen kann.
Eine Ärztin – zigtausende Datensätze
Bleiben wir gleich bei dem letztgenannten Beispiel: bei der KI in der Medizin. Die Medizin ist ein Fach, das enorme Mengen von Daten produziert. Röntgenaufnahmen, CT-Aufnahmen, MRT-Aufnahmen, Blutwerte, Fotos der Netzhaut oder auch Berichte über Therapieerfolge und so weiter sind nichts Anderes als Daten, und in einer einzigen Klinik werden jeden Tag tausende und zigtausende solcher Datensätze erzeugt. Ideal wäre es natürlich, wenn man beim Beraten eines Patienten auf alle jemals auf der Welt gemachten Erfahrungswerte zurückgreifen könnte. Das ist natürlich illusorisch, denn die Daten müssten erst aufbereitet und zur Verfügung gestellt werden.
Was aber bereits Realität ist, das ist das Trainieren einer KI auf enorm großen spezialisierten Datensätzen, die schon verfügbar sind. Es gibt mittlerweile Fälle, in denen Algorithmen beruhend auf Künstliche Intelligenz beispielsweise Krebs besser erkennen kann als ein menschlicher Arzt. In einer in „nature“ publizierten Studie1 wurde eine KI an zigtausenden Mammographie-Aufnahmen trainiert und übertraf daraufhin die Ärztinnen und Ärzte bei der Diagnosegenauigkeit. Hätte ein Mensch zigtausende Bilder betrachten und die Krankengeschichten dazu lesen müssen, hätte er wohl Jahre gebraucht oder wäre gar in seinem ganzen Leben nicht fertig geworden. Können Ärztinnen und Ärzte auf solche Systeme zurückgreifen, bleibt mehr Zeit für Beratung und Therapie, und die Patientinnen und Patienten profitieren gleich mehrfach.
Personalisierte Medizin
Es müssen aber nicht zwangsläufig Bilddaten sein, auf die man eine KI erfolgreich ansetzen kann. Auch Therapieberichte, die üblicherweise in Papier- beziehungsweise Textform vorliegen, können mittlerweile mittels angewandter Mathematik zur Prognose verwendet werden. Hier kommt vor allem Visualisierung zum Einsatz, wie in einer Arbeit des Fraunhofer-Instituts für Graphische Datenverarbeitung2 zur Therapie von entzündlichen Darmerkrankungen. Alter und Vorerkrankungen wurden dafür ebenso erhoben wie die medikamentöse Therapie und deren Erfolg. Daraus ließen sich Kohorten von Patientinnen und Patienten bilden, deren Krankheitsfälle einander am ähnlichsten waren. So konnte man die Wirkstoffe mit den Befunden in Relation setzen und erkennen, welcher Wirkstoff den Menschen mit einem bestimmten Profil am besten geholfen hat. Man konnte mit Hilfe von KI also einen enormen Wissensgewinn erzielen und die Mathematik für eine Prognose zum Wohl der Menschen nutzen.
Natürlich muss bei alledem immer der Mensch die Entscheidung über die Therapie treffen, Arzt oder Ärztin werden niemals ersetzt, aber die Technologie erlaubt es uns, die Medizin individualisierter und personalisierter zu gestalten – durch die Auswertung von Datenmengen die für einen Menschen nicht mehr überblickbar wären. Mathematik und Biologie rücken immer näher zusammen.
KI zum Schutz der Umwelt
Ebenfalls besonders wichtig sind Prognosen beim Thema Klimawandel, und das nicht nur bei den globalen Modellen, die uns voraussagen, mit welchen Durchschnittstemperaturen wir in Zukunft werden leben müssen, sondern auch ganz regional. Betrachten wir zum Beispiel die Wälder rund um uns herum, dann müssen wir uns die Frage stellen, ob diese unter den veränderten Bedingungen auch in zwanzig oder dreißig Jahren noch überleben können. Der Wald hat dabei viele Bedeutungen: nicht nur eine wirtschaftliche zum Beispiel in der Holzproduktion, sondern auch als Erholungsgebiet für Menschen und als Ökosystem und Lebensraum für Tiere.
Zum Glück gibt es auch hier eine große Menge an Daten, auf die wir unsere KI trainieren können: Satellitendaten, Überflugsdaten, Baumkataster und Beobachtungen von Insektenbefall, Schädlingsbefall oder dem Gesundheitszustand von Pflanzen. Erst muss die KI erkennen können, ob der Wald gesund ist oder etwa unter Trockenstress leidet. Im Endeffekt will man möglichst frühzeitig erkennen, ob es dem Ökosystem nicht gut geht. Eine Prognose soll dann vorhersagen können, ob ein Schädlingsbefall bevorsteht und ob Maßnahmen gesetzt werden müssen. Analysen dieser Art sind realistischer Weise bereits mit der vorhandenen Technologie machbar und müssen in den kommenden Jahren vermehrt in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken.
Immer neue Themen
Faszinierend ist für mich an all diesen Beispielen, dass die Mathematik hinter den Systemen eigentlich nicht neu ist. Die Prinzipien und Rechenmethoden sind lange bekannt, aber es ist die enorme Menge verfügbarer Daten, kombiniert mit der hohen Rechenleistung moderner Computer, die jetzt zu diesen Anwendungsmöglichkeiten geführt hat.
Die Palette der möglichen Anwendungen ist riesig und es werden immer weitere hinzukommen. Jedes davon wird ein Zukunftsthema sein, und Mathematik bildet die Basis für sie alle.
Über die Autorin
Dr. rer. nat. Eva Eggeling ist Mathematikerin. Sie studierte an der Universität Bonn Angewandte Mathematik und Operations Research und promovierte an der Universität zu Köln. Der Schwerpunkt ihrer verschiedenen interdisziplinären Projekte (Datenassimilation, Umformprozesse, Materialforschung und biomedizinische Anwendungen) lag dabei auf der Simulation und der Datenanalyse. Sie war sieben Jahre wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Fraunhofer-Institut für Algorithmen und Wissenschaftliches Rechnen SCAI und sammelte zudem Erfahrungen an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh, USA. Im März 2008 übernahm sie die Leitung des Geschäftsbereichs Visual Computing in Graz der Fraunhofer Austria Research GmbH, außerdem leitet sie das im Oktober 2019 neu gegründete Innovationszentrum für Digitalisierung und Künstliche Intelligenz KI4LIFE in Klagenfurt – ebenfalls eine Niederlassung der Fraunhofer Austria. KI4LIFE konzentriert sich auf die Kombination von datengetriebenem Wissen mit Expertenwissen und wird anwendungsorientierte Forschung rund um die Künstliche Intelligenz an der Schnittstelle zwischen Unternehmen und Universitärer Forschung betreiben. Die beiden Geschäftsbereiche in Graz und Klagenfurt zusammen bilden das Center for Data Driven Design, dessen Leitung Eva Eggeling ebenfalls innehat.