Ein Plädoyer für das Mittelmaß
Wir alle sind tagtäglich mit den Erwartungen anderer und den eigenen Ansprüchen an uns selbst konfrontiert. Schon sehr früh lernen wir, dass wir in irgendeiner Weise profitieren, wenn wir das von uns Erwartete tun. In der Schule wird Leistung mit guten Noten belohnt und auch sonst erleben wir Wertschätzung und Anerkennung, wenn wir uns entsprechend den gesellschaftlichen Erwartungen „gut“ und richtig verhalten. Unbewusst werden gesellschaftliche Erwartungen Teil unserer individuellen Wertvorstellungen und formen damit auch unsere eigenen Ansprüche, sowohl an uns selbst als auch an andere Personen, die Teil unseres sozialen Gefüges sind.
Gesellschaftliche Erwartungen sind ein Produkt aus kulturellen Werten, sozialen Normen und historischen Einflüssen und bestimmen maßgeblich, was wir als akzeptable Leistung oder als Erfolg ansehen. Dadurch kann durch gesellschaftliche Erwartungen ein gewisser Druck auf den Einzelnen entstehen, gewisse Verhaltensweisen, Leistungen und Ziele in verschiedenen Lebensbereichen, wie beispielsweise Bildung, Karriere, Familie und soziale Beziehungen, zu erreichen.
Dieser Druck auf den Einzelnen ist besonders dann sehr groß und kann zu einem erheblichen Stressfaktor werden, wenn die gesellschaftlichen Erwartungen und/oder auch die individuellen Ansprüche, zu hoch und damit unrealistisch sind. Das kann zu einem Gefühl der Unzulänglichkeit führen und zu Versagensängsten beitragen.
Hohe Erwartungen und Perfektionismus
Besonders hart trifft diese Diskrepanz zwischen tatsächlich Leistbarem und gesellschaftlicher Erwartung die Gruppe der berufstätigen Mütter. Die Erwartungen an berufstätige Mütter sind in unserer Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten stark gewachsen. Einerseits haben Frauen und Mütter heute beruflich größere Chancen und Möglichkeiten und werden dazu ermutigt, eine erfolgreiche Karriere zu leben. Andererseits haben sich jedoch die Erwartungen an ihre mütterliche Rolle und ihre hausfraulichen Aufgaben noch nicht in gleichem Maße angepasst. Aufgaben, die traditionell eher dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind, werden noch nicht ausreichend delegiert und weiterhin großteils von diesen berufstätigen Müttern wahrgenommen.
Vielen Müttern ist dabei das Ausmaß der von ihnen wahrgenommenen Aufgaben und das Ungleichgewicht der Aufgabenverteilung innerhalb der Familie nicht bewusst. Andere entscheiden sich bewusst dafür, keine oder nur wenige der traditionell dem weiblichen Geschlecht zukommenden Aufgaben abzugeben oder sie fordern die Mitwirkung von ihren Ehepartnern nicht stark genug ein. Das ist oft den gesellschaftlichen und eigenen hohen Ansprüchen geschuldet und resultiert häufig darin, dass berufstätige Mütter weiterhin die Hauptverantwortung für Haushalt, Kindererziehung und die sozialen Aufgaben innerhalb der Familie tragen.
Bei gleichzeitigem Anspruch, in jeder Lebenssituation perfekt zu sein, steigt der Druck auf die berufstätigen Mütter enorm. Das führt zu einer permanenten Gratwanderung und einem Jonglieren zwischen der Verantwortung für die Kinder, den Haushalt und den beruflichen Verpflichtungen. Häufig verstärkt der eigene Perfektionismus den Wunsch von Müttern in allen Lebensbereichen gleichermaßen erfolgreich zu sein. Wenn dieses gelingt, dann vielfach nur unter ständigem Schlafmangel und unter Vernachlässigung der eigenen Bedürfnisse und Interessen. Das gefährdet mittel- und langfristig das mentale und körperliche Gleichgewicht der Betroffenen. Nicht wenige Mütter stoßen durch die Vielzahl an Aufgaben, die gesellschaftlichen Erwartungen und die unrealistischen Ansprüche zwischenzeitlich an die Grenzen ihrer Belastbarkeit.
Begegnen wir uns mit mehr Wohlwollen
Die Herausforderungen, mit denen Mütter, die sich für eine berufliche Karriere entscheiden, konfrontiert sind, sind unbestritten und sollen nicht in Abrede gestellt werden. Jedoch sind es häufig diese zu hohen gesellschaftlichen Erwartungen und unrealistische individuelle Ansprüche, die die individuelle Situation für berufstätige Mütter noch verschärfen. Wenn der Anspruch „Perfektion“ lautet, ist ein Scheitern sehr leicht möglich. Ausgehend davon, dass Zeit eine begrenzte Ressource ist, ist es erforderlich Abstriche zu machen und zu überdenken, was für einen selbst „perfekt“ sein könnte. Unter Umständen stellt sich dabei heraus, dass ein Streben nach dem Mittelmaß für ein glückliches Familienleben und ein erfülltes, erfolgreiches Berufsleben völlig ausreichend ist. Wenn man seinen Blickwinkel ein wenig ändert und sich selbst mit mehr Toleranz und Wohlwollen begegnet, stellt sich heraus, dass die eigene Leistung im Ergebnis vielleicht schon sehr gut ist. Und „sehr gut“ ist etwas, worauf man durchaus stolz sein kann und das an perfekt schon sehr nah dran ist.
Seien wir ehrlich miteinander
Gesellschaftliche Erwartungen an berufstätige Mütter müssen realistisch sein. Um ein Umdenken zugunsten realistischer Erwartungen zu schaffen, müssen wir ehrlich sein. Wenn wir nicht ehrlich kommunizieren und offen sagen, wo die Herausforderungen liegen, wo wir im Alltag Unterstützung brauchen und woran wir vielleicht auch scheitern, dann werden diese unrealistischen Erwartungen und Ansprüche auch die nächste Generation an berufstätigen Müttern in gleichem Maße treffen. Es ist an uns, zu einer veränderten gesellschaftlichen Erwartungshaltung an Mütter beizutragen.
Über die Autorin:
Mag.a Christine Redlein ist bei der Stadt Villach beschäftigt und dort im Team der Finanzdirektion hauptsächlich für „Wirtschaftsförderungen und Betriebsansiedlungen“ zuständig.
Nach der Matura an der Handelsakademie Villach führte der Weg an die WU Wien, wo sie das Studium der Internationalen BWL absolvierte. Nach beruflichen Jahren in der Firmenkundenbetreuung eines österreichischen Kreditinstituts und der Geburt ihrer Tochter begann sie im Jahr 2017 ihre Tätigkeit beim Magistrat der Stadt Villach.